02 September 2005

PROGRAMM: THEATER

Tiflis. Theater. Publikum

In der georgischen Hauptstadt gibt es derzeit über 30 Theater, darunter sechs privat betriebene Häuser. Dies ist viel im Vergleich zu einer handvoll Kinos, in denen man nur selten einen georgischen Film zu sehen bekommt. Trotz der gepfefferten Eintrittspreise, oft 10 Lari - was durchaus ein Viertel eines Monatslohnes sein kann - sind die meisten Vorstellungen immer bis auf den letzten Platz ausgebucht.
Diese Begeisterung der Tifliser für das Theater erklärt sich nur teilweise aus den wenigen anderen Unterhaltungs- und Vergnügungsmöglichkeiten, die die Stadt zu bieten hat. Man geht eben gern ins Theater. Jeder hat dem Fremden gegenüber etwas über die Bühnen der Stadt zu berichten, jeder hat seine eigene Beziehung zur darstellenden Kunst, manche eine sehr persönliche: Einige Georgier verweisen auf die Theatralität der georgischen Kultur und behaupten, dass jeder von ihnen ein großer Schauspieler wäre. Abseits der Bühnen versteht sich.
Ältere Theatergänger schwärmen vom Mardshanischwili und freuen sich auf die Wiedereröffnung des Hauses in der kommenden Saison. Andere fiebern neuen Inszenierungen am Rustaweli entgegen, das ebenfalls renoviert wurde und nun wieder öffnen soll. Allgemein wird besonders die Genialität von Regisseur Robert Sturua gepriesen, auch wenn ihm mancher nachsagt, dass seiner Schaffenskraft langsam der Schwung ausgeht. Andere behaupten, dass seine heute legendäre Inszenierung des „Kaukasischen Kreidekreises“, die mehrere Jahrzehnte lang auf dem Spielplan stand, besser als jene von Brecht gewesen wäre.
Ebenso zur Tifliser Theaterlandschaft gehören Folkloregruppen, die, wenn sie auch ein Teil des Erbes sowjetischer Kulturpolitik und etwas altbacken sein mögen, dennoch beim Publikum enorm beliebt sind. Zu einer Vorstellung des Ensemles „Rustawi“, mit der die Oper die letzte Saison beschloss, erschien ein bunt gemischtes Publikum, darunter auch viele junge Leute. Nach drei Tänzen brannte die Luft: Das Publikum scheint Bestandteil der Aufführung zu werden, ständig unterbrechen die Tänzer ihren Auftritt für den Szenenapplaus; nach einem äußerst feurigen Messertanz betreten die Musiker die Bühnenmitte und spielen ein leises, leichtes Flötenstück. Es sieht so aus, als wäre dies zur Beruhigung der Masse auch dringend notwendig, sie scheint im Stande, die Oper anzuzünden. In der Pause wird geraucht, gelärmt, und nach Bekannten Ausschau gehalten. Frauen schwenken ihre Maraos, bis es weitergeht.
Eine andere Aufführung zum Saisonende war Mrozeks „Emigranten“ im neu eröffneten Atoneli Theater, das eher junges, eher wohlhabenderes Publikum anzieht. Auch hier werden aus Zuschauern Mitwirkende, die jeden Witz ausgiebig belachen und beklatschen, so dass auch diese Vorstellung mehrmals unterbrochen werden muss.
Während der auch heute noch nicht gänzlich behobenen Energiekrise wurde die Beharrlichkeit des Tifliser Publikums sprichwörtlich - es strömte trotz mangelnder Beleuchtung und Beheizung der Spielstätten in den Wintermonaten nachmittags in die Theater und ermöglichte durch mitgebrachte Kerzen die Aufführungen.
Ein weiterer Aspekt der Theaterbesessenheit der Tifliser offenbart sich, wenn man zum Pantheon auf dem Mtazminda (Heiliger Berg) heraufsteigt, wo wichtige Persönlichkeiten bestattet wurden, die zum Wohle der georgischen Gesellschaft beigetragen haben. Gut die Hälfte dieser Personen des öffentlichen Leben waren mit der Bühne verbunden, wie z.B. der Regisseur Kote Mardshanischwili, der Schauspieler Uschangi Trcheidse oder der Tänzer Wachtang Tschabukiani.
Wenn man dazu bedenkt, dass dem Theater identitätsstiftende Funktion zukommt, dass das Theater einer der wenigen Orte ist, an dem Öffentlichkeit probiert und ausgetragen wird, gewinnt das Phänomen der Tifliser Theaterliebe an Klarheit. Selten wird man einem Einwohner der Stadt begegnen, der sich nicht über das Geschenk einer Theaterkarte freuen würde.
(Birgit Kuch im August 2005)

PS:
Der "Alte Meister" Robert Sturua und der weltbekannte Puppenspieler Rezo Gabriadze gastierten bereits mehrmals in (West)Europa und waren für MANöVER kein Sichtungsschwerpunkt. Gern hätten wir das beliebte Privattheater "Sardapi" eingeladen, allerdings drängte sich keine Inszenierung des Hauses für einen Transfer nach Leipzig auf. Die erwähnten „Emigranten“ hätten im Ausland einiges an Einfühlung erfordert, die wir unserem Publikum durchaus zugemutet und zugetraut hätten, wenn es sich nicht um so sprachdominiertes Theater gehandelt hätte. Wirklich schade ist es um die schwungvolle und unterhaltsame, kurz stringente, kluge, schöne Inszenierung des Stückes „Nugzar und Mephisto“ des Autors Lasha Bugadze und des Regisseurs Georgi Tavadze am „Royal District Theatre“. Hier wäre eine genaue Simultanübersetzung nötig gewesen, eine Textmaschinerie, die viel Atmosphäre zerstört hätte. Die Atmosphäre eines der schönsten Theater Tbilisis, die wir in unseren Spielstätten ohnehin nicht hätten herstellen können.
Leider.

Gocha Kapanadze & Ensemble
Medea


In der antiken Tragödie von Euripides (aus dem 5. Jahrhundert vor Christi) passiert im Wesentlichen folgendes:
Der Grieche Iason verlässt seine Frau Medea und die gemeinsamen Kinder. Seitdem führt Medea ein Schattendasein, angefüllt mit Tränen und Flüchen. Als sie erfährt, dass der König Kreon plant, sie aus Korinth zu verbannen, beschließt sie umfassend Rache zu nehmen. Sie sendet vergifteten Schmuck in den Königspalast, worauf sowohl die neue Frau Iasons, die Königstochter Kreusa, als auch König Kreon sterben. Iason eilt nach Hause, aber er kommt zu spät: Medea hat auch ihre beiden Kinder getötet.

Es gibt auch Quellen, die diese angeblich wahre Geschichte anders erzählen:
In reality it was not Medea who killed her children, but Corinthians. They did it for revenge and then ordered a play to Euripide about a foreigner Medea accused of assassination of her own sons.
(Parmenike, griechischer Geschichtsschreiber im 3. Jahrhundert vor Christi)
In Corinthia Medea poisoned Creont, but since she was affraid of his friends and relatives, she fled to Athens. Her sons were to little and could not follow her. (...) However, Creont’s family killed them and spread the word that Medea assassinated not only Creont but also her own children.
(Creofile of Samoa in „Taking Ecalia“, etwa 700 vor Christi)

Der Regisseur Gocha Kapanadze arbeitet in Tiflis bewusst nicht an einem Stadttheater, er will es anders versuchen, mit einem freien, einem wechselnden Ensemble. Wo ist der Unterschied? Auch bei „Medea“ sind - wie fast immer und überall in Georgien - sehr viele Darsteller auf der Bühne, auch bei „Medea“ wird viel gesprochen, aber es wird auch geschwiegen und geschrien und getanzt, es gibt etwas wildere Musik, etwas weniger „Theaterdonner“ und etwas weniger buntes Licht als an den großen Bühnen. An einer älteren Arbeit Kapanadzes im abchasischen Suchumi lassen sich wichtigere Motive festmachen: In „Makhaz“ wird eine geschlossene, weltabgewandte Gesellschaft thematisiert, in der Männerbünde und Traditionen dominieren und jedes Aufbegehren gefährlich sein kann. So etwas lässt sich nicht überall mit öffentlichem Geld auf eine Theaterbühne bringen.
Zurück zu „Medea“: Was immer Theater in Georgien im Detail ist oder im Zweifelsfall ausmacht – dieser Abend legt eine Spur, kann einen Eindruck vermitteln, ist also ein gutes Beispiel. „Medea“ ist nicht nur interessant weil die Heldin unter heutigen Gesichtspunkten eine Georgierin - im Exil - wäre, das alte Kolchis, auch die Assoziation „Das Goldene Fließ“ plötzlich plastisch werden, nein, es gibt auch eine besondere Art der Einfühlung, eine besondere Art der Wertschätzung dem Text, der Begebenheit gegenüber und einen sehr intensiven Umgang damit - der z.B. in einer deutschen Inszenierung nur schwer vorstellbar und kaum glaubwürdig wäre.

Presse
Eine prächtige, sehr emotionale Aufführung. (Alec Dupo, Regisseur aus Frankreich)
Diese „Medea“ vereint es mutig, das archaische und das moderne Theater. (Manana Gegetchori in „Droeba“)
Braucht man im 21. Jahrhundert noch das Theater? Natürlich, und diese herrliche „Medea“ bestätigt das. (Nino Matchawarlani in „Teatri“)
Medea ist wie ein Vulkan. (Pikria Kushitashvili in „Kultura“)

Medea, Tochter des Königs von Kolchis: Marina Kakhiani
Circe, Medeas Tante: Darejan Kharshiladze
Kreon, König von Korinth: Dimitri Jaiani
Iason, Medeas Mann: Gocha Kapanadze
Vorsehung: Teona Guramishvili
Frauen von Korinth: Irina Gudadze, Marina Sagaradze, Darejan Kharshiladze
Kreons Wache: Misha Kvichrelishvili, Roland Okropiridze, Goga Salukvadze

Textfassung: Gocha Kapanadze nach Euripides und Jean Anouilh
Ausstattung: Anna Ninua
Choreographie: Iliko Sukhishvili jr.
Inszenierung: Gocha Kapanadze

Wir verzichten bewusst auf Übertitelung und/oder Simultanübersetzung. Die georgische Sprache ist gerade in dieser Inszenierung wie Musik.

Zum Nachlesen wird es am Abend der Aufführung gedruckte Übersetzungshilfen geben.

Medea

Donnerstag, den 13. Oktober
LOFFT, 20 Uhr



Georgisches Kampf Kunst Theater + die Band Stumari Khridoli

Das Konzept, der Inhalt dieser Show könnte ebenso gut einem Rechercheprojekt modernen Tanzes oder europäischer Performance-Kunst entsprungen sein: Das Schwert als Teil des Darstellerkörpers, die Suche nach dem Feind, Gefährdung des Körpers (durch schwere Kämpfe, Ringen und Fechten), (extra komponierte Live-) Musik, (archaischer) Tanz und Gesang.
Im Gegensatz zu anderen georgischen Folklore-Shows sind hier keine Artisten auf der Bühne, hier zeigen wirkliche Kämpfer, dass ihr Sport durchaus auch Kunst ist. Erstere erinnern immer ein wenig an Gymnastik, dies hier ist seinen besten Momenten atemberaubende Kampf(es)kunst. Die gibt es natürlich auch in Asien, nur dass die Georgier ein wirklich kriegerisches Volk sind - und hier viel von ihrem Wesen, ihren Leidenschaften preisgeben. Natürlich bleibt „Khridoli“ ein Abend, der fast eins zu eins traditionelles Brauchtum abbildet, aber er hat Dramaturgie und Tempo. Fast die ganze Show erzählt davon, wie man sich gegen eindringende Feinde wehrt. Und das macht sie theatralischer als vieles, was im georgischen Theater sonst angeboten wird. Spannend und exotisch ist sie sowieso.

Stumari wurde im Jahr 2000 gegründet. Die Musiker vertonen alte Texte, die sie in Bibliotheken und Archiven finden. Ihre Musik wirkt zeitlos, basiert aber auf alten georgischen Traditionen. In Georgien gelten sie als eine Band, die gleichermaßen bewahrt und erneuert. Stumari wird nicht nur zu Folk- sondern ebenso oft zu Fusions-Musik-Festivals eingeladen. In diesem Jahr veröffentlichten sie ihr erstes Album „Rope Bridge“.
Mit den Ringern des Georgischen Kampf Kunst Theaters arbeitete die Band bereits zu verschiedenen Anlässen und in verschiedensten Konstellationen zusammen. Für die Show in Leipzig wurden mehrere neue Songs komponiert. Stumari zeichnet auch für die visuellen Effekte der Show.

Im Anschluss an die Performance gibt es ein Konzert.

Gitarre: David Khositashvili
Flöte und Gesang: Nino Janjgava
Geige und Gesang: Marina Janjgava
Percussion: Guram Makalatia

Georgisches Kampf Kunst Theater + die Band
Stumari Khridoli

Freitag, den 14. Oktober
LOFFT, 20 Uhr

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